Interview mit Mario Gattiker, Staatssekretär für Migration, 11. April 2018: Blick; Pascal Tischhauser.
Blick: "Der oberste Schweizer Asylbeamte, Mario Gattiker, empfängt BLICK in seinem Staatssekretariat für Migration (SEM) in Bern-Wabern. Er will erklären, weshalb das SEM bestimmte Eritreer gerade jetzt überprüft. Und welche Fehler man gerade jetzt vermeiden muss. Zudem hat er eine Idee, was man mit temporär nicht benötigten Asylzentren tun könnte."
Nach den Diskussionen um die Überprüfung des Aufenthaltsstatus von 3200 Eritreern, die vorläufig aufgenommen wurden, meldet sich der zuständige Staatssekretär Mario Gattiker zu Wort. Er versteht nicht, weshalb es zwei Jahre nach Bekanntgabe der rigideren Gangart zu Kritik kommt. Für ihn geht es um die Gleichbehandlung aller Asylsuchenden.
Langweilen Sie sich nicht? Es gibt weit und breit kein Asylchaos, ja die Asylzahlen gehen ständig zurück.
Überhaupt nicht. Wir haben vor den Toren Europas nach wie vor mehrere Krisenherde. Der Migrationsdruck auf Libyen, auf die Türkei oder Griechenland ist weiter gross, und es gibt riesige Flüchtlingspopulationen in den ärmsten Ländern. Das europäische Asylwesen ist also gefordert. Es geht um die faire Behandlung aller Gesuchsteller, um den Schutz für verfolgte Personen, um die organisierte Rückkehr von Migranten und um Migrationsprävention, also Hilfe vor Ort. Wir können uns also nicht zurücklehnen.
Aber die Abnahme der Asylgesuche in der Schweiz hält an.
Ja, und wir haben eine hohe Schutzquote: Von denen, die zu uns gelangen, hat ein Grossteil tatsächlich Schutzbedarf.
Sie wollen also sagen, dass das SEM vieles richtig gemacht hat?
Ich will sagen, dass die Schweiz einen konsequenten Weg gegangen ist: Diejenigen, die Schutz benötigen, erhalten diesen auch. Die Menschen ohne Schutzgrund wissen, dass sie nicht in der Schweiz bleiben können. Das haben wir seit 2012 mit verschiedenen Massnahmen klargemacht.
So konsequent wollen Sie auch bei den Eritreern sein. Warum werden 3200 überprüft?
Das ist keine politische Entscheidung, hier geht es um Fakten: Gestützt auf unsere Analysen und nach einer Mission 2016 nach Eritrea haben wir festgestellt, dass für einen Teil der Asylsuchenden nicht mehr dasselbe Risiko besteht, bei einer Rückkehr verfolgt zu werden. Das gilt für Menschen, die zwar illegal ausgereist sind, die sich aber nicht dem dortigen Militärdienst entzogen haben. Nun geht es um die Gleichbehandlung: Wenn heute ein Eritreer neu in die Schweiz kommt und er wegen der neuen Praxis keinen Aufenthalt bekommt, müssen wir konsequent auch jene überprüfen, die schon hier sind.
Und das sind 3200 Personen?
Ja, es geht eben nicht um alle Eritreer in der Schweiz. Etwa 6000 der 9400 vorläufig aufgenommenen Eritreer sind Flüchtlinge. Sie sind politisch verfolgt. Für sie gilt die neue Praxis nicht. Bis Ende 2019 schauen wir uns die anderen Fälle genau an. Wir starten mit einem Pilotprojekt, das bis Ende Mai dauert. Dazu haben wir 200 Personen das rechtliche Gehör gewährt. Natürlich können sie individuelle Gründe geltend machen, weshalb sie nicht zurückkönnen. Und wir prüfen das. Die Kantone haben ausserdem die Möglichkeit, gut integrierten Menschen nach fünf Jahren in der Schweiz eine Aufenthaltsbewilligung zu geben.
Und sollte das alles nicht fruchten, muss der Eritreer gehen?
Betroffene können beim Bundesverwaltungsgericht rekurrieren. Wenn sie dort unterliegen, können wir sie aber dennoch nicht nach Eritrea überstellen, denn Eritrea akzeptiert generell keine Rückkehr unter Zwang. Allerdings können die Leute freiwillig zurück. Dann profitieren sie von der Rückkehrhilfe der Schweiz.
Wenn sich jemand aber weigert?
Wer nicht kooperiert, wird wie alle Angehörigen anderer Staaten in solch einem Fall auf die minimale Unterstützung gesetzt. Er bekommt nur noch Nothilfe und darf auch nicht arbeiten. So ist das Gesetz.
Kritik ist auch bei Asylbewerbern aus Äthiopien laut geworden. Die Schweiz habe sich einem Geheimvertrag der EU mit Addis Abeba angeschlossen, heisst es.
Diese Kritik verstehe ich nicht. Bei Äthiopien haben wir eine Schutzquote von über 40 Prozent. Wir anerkennen also, dass ein erheblicher Teil der Menschen aus diesem Land, das sehr instabil ist, Schutz benötigt. Aber wie alle anderen europäischen Staaten konnte auch die Schweiz die anderen 60 Prozent nicht zurückführen. Nun hat die EU ein technisches Abkommen getroffen, das die Modalitäten der Identifikation der Leute regelt und eine Rückführung ermöglicht. Weil wir Schengen-Mitglied sind, gelten diese Regeln nun auch für uns. Das ist eine gute Nachricht.
Der Vorwurf lautet, Addis Abebas Geheimdienst erhalte so Einblick in die Dossiers von Geflohenen und könne Äthiopier in der Schweiz ausspionieren.
Es geht nur um Personen, die abgewiesen wurden, weil sie in Äthiopien nicht gefährdet sind. Wir geben Äthiopien zudem nur die Informationen weiter, die es zur Identifizierung braucht. Unser Ansprechpartner in der Schweiz ist dabei die äthiopische Botschaft. Die Zusammenarbeit mit Äthiopien entspricht dem üblichen Vorgehen. Dass dabei auf Seiten Äthiopiens auch die Sicherheitsbehörde involviert ist, ist verständlich. Wenn es zur Identifikation ein Interview braucht, findet dieses hier bei uns im Gebäude in Anwesenheit unserer Leute statt – auch das ist bei jedem anderen Staat so.
Und die Kritik von Hilfswerken können Sie nicht verstehen?
Es wird der Link gemacht zur allgemeinen Menschenrechtssituation. Und ja, hier gibt es Fragen. Aber die allgemeine Menschenrechtssituation ist im Asylrecht nicht alleine massgebend. Es geht immer darum, ob für den einzelnen Menschen ein reales Risiko besteht. Das klären wir sorgfältig ab. Derzeit ist eigentlich nur in Syrien die Lage so, dass im ganzen Land alle Menschen an Leib und Leben gefährdet sind.
Der äthiopische Hassprediger, der in der An 'Nur-Moschee im zürcherischen Winterthur zum Mord aufrief, konnte trotz Verurteilung und zehnjährigem Landesverweis nicht ausgeschafft werden. Wird das besser?
Ja, genau in solchen Situationen hilft die Vereinbarung. Sobald das Abkommen in der Praxis funktioniert, kann der Ex-Imam, wie andere Personen ohne geregelten Status, zurückgeführt werden. Vorher war es fast aussichtslos.
Nochmals zu den sinkenden Asylzahlen: Der Bund verfügt in seinen Asylzentren über 3700 Betten, die 2017 nur zur Hälfte belegt waren. Braucht es die beschlossenen 5000 Bundesasylplätze noch?
Unbedingt! Eine gute, glaubwürdige Asylpolitik braucht stabile Strukturen und muss in der Lage sein, eine plötzliche Zunahme der Gesuche aufzufangen. Mit dem beschlossenen Asylgesetz haben wir die einmalige Chance, der Asylpolitik zu nachhaltigen Strukturen zu verhelfen. Es gibt nichts Teureres, als wenn sie in der Krise improvisieren müssen. Im arabischen Frühling lagen die Kosten pro Tag und Person bei 350 Franken – statt bei den etwas über 80 Franken, die normal wären.
Aber könnte man denn nicht ein Bundeszentrum weniger bauen?
Nein, das wäre falsch. Zwar hatten wir im März nur 1281 Asylgesuche und damit 355 Gesuche weniger als im März vor einem Jahr, aber die Zahlen können rasch wieder steigen. Und falls wir tatsächlich wieder einmal eine lange Periode mit tiefen Asylzahlen erleben, ist es denkbar, einen Teil der Strukturen anders zu nutzen.
Wie?
Es hat in den Bundeszentren, die wir für schnellere Asylverfahren brauchen, Büros und Betten. Es gibt verschiedene gesellschaftliche Bereiche, in denen diese Kombination Sinn macht: Sport, Ausbildung, Militär oder halt auch Jugendlager. Vorstellbar ist vieles. Konkrete Pläne gibt es noch keine. Fatal wäre es einfach, jetzt diese Zentren nicht zu bauen und den klaren Auftrag der Bevölkerung zu ignorieren.
Letzte Änderung 11.04.2018