Direkte Demokratie heisst direkte Verantwortung
Bern, 01.08.2015 - Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga. Es gilt das gesprochene Wort.
Liebe Bürgerinnen und Bürger, liebe Gastgeberinnen und Gäste aus dem In- und Ausland
Als ich für diese 1.August-Feier aufs Rütli eingeladen wurde, sagten mir die Veranstalter, ich könne einen Gast mitbringen - und zwar irgendjemanden, d.h. ich sei in meiner Wahl völlig frei. Das fand ich verlockend; und deshalb bin ich heute hier mit euch allen auf dem Rütli.
Ein paar Monate später überlegte ich, wen ich einladen könnte.
Eine Friedensnobelpreisträgerin? Einen Regierungschef? Die jüngste Gemeindepräsidentin der Schweiz? - Als Zeichen der Schweizer Gastfreundschaft wäre es naheliegend gewesen, einen Nachbarn einzuladen:
- Aber der französische Staatspräsident war dieses Jahr schon in der Schweiz;
- Frau Merkel kommt im September;
- und Matteo Renzi hat, Sie wissen es, jetzt dann Ferragosto;
- stellvertretend für alle unsere europäischen Nachbarn hätte ich Hrn. Juncker einladen können, aber stellen Sie sich vor: Nach dem Rütlischwur der Rütlikuss - das wär gar nicht gegangen.
Dann kam mir eine Einladung in den Sinn, die ich im Frühling selber erhalten hatte; ich lese Ihnen ein paar Zeilen aus dem Einladungsschreiben vor:
„Sehr geehrte Frau Bundespräsidentin
Meine Freundin Nadine Wüthrich und ich, Debora Ticli, besuchen die 9. Klasse des Schulhauses Kreuzfeld in Langenthal. Wir wollen eine Person einladen, die (...) sich in ihrem Beruf für andere einsetzt. ( ... ). - Wir würden Ihren Besuch vertraulich behandeln und die Medien darüber nicht informieren."
Das klingt spannend, dachte ich, und der letzte Satz des Briefes überzeugte mich dann vollends, er lautete: „Die Schule würde ihre Reisespesen übernehmen."
Ein paar Wochen später fuhr ich nach Langenthal und wurde aufs Herzlichste empfangen. Die Schüler/-innen stellten mir Fragen über die Energiepolitik, sie wollten wissen, wie in unserem Land die Ausländer eingebürgert werden und wie es mit der Schweiz und Europa weitergehe.
Ich sagte ihnen: Ihr seid jetzt 16 Jahre alt. Wenn ihr in 2 Jahren abstimmen könnt, werdet ihr vermutlich über genau diese Fragen abstimmen.
- Soll die Schweiz in Zukunft auf erneuerbare Energien statt auf Atomkraft setzen?
- Soll man Ausländer/-innen der dritten Generation erleichtert einbürgern?
- Und: Wie regeln wir das Verhältnis zwischen der Schweiz und Europa?
Ich glaube, vielen Jugendlichen wurde in diesem Moment bewusst, dass in unserer direkten Demokratie ihre Meinung gefragt ist.
Ich denke oft und gern zurück an das Gespräch mit diesen interessierten jungen Menschen, die schon bald mitbestimmen und unser Land prägen werden. Diese Begegnung hat auch mir viel gegeben.
Deshalb ist Debora Ticli, die mich eingeladen hatte, heute mein Gast. Und auch ihre Freundin Nadine Wüthrich ist mit uns auf dem Rütli.
Debora ist mein Gast, weil sie als 16-Jährige bereits das lebt, was unsere direkte Demokratie ausmacht: Sie setzt sich mit politischen Fragen auseinander, sie bildet sich eine Meinung, sie steht hin und vertritt diese Meinung.
Debora will unser Land mitgestalten und verändern, und das heisst: Sie übernimmt Verantwortung.
Geschätzte Mitbürger/-innen, wir werden in den nächsten Jahren entscheidende Weichen stellen für unser Land:
- Was tun wir konkret gegen die Klimaerwärmung?
- Wie sichern wir die AHV und die anderen Sozialversicherungen?
- Wie regeln wir unsere Beziehungen zu unserem wichtigsten Handelspartner, zu Europa - und zwar so, dass diese Beziehungen stabil und sicher sind und wir die heutige Ungewissheit beenden können?
Wenn wir über Europa reden, dürfen wir eines nie vergessen:
Der Frieden, der unser Land seit 70 Jahren umgibt, ist keine Selbstverständlichkeit. Noch nie gab es in Mitteleuropa eine längere Phase ohne Kriege. Das heisst:
Wir haben unseren Wohlstand und unsere Freiheit nicht gegen Europa verteidigt, sondern diese Entwicklung war nur in einem friedlichen europäischen Umfeld möglich.
Eine gesunde Wirtschaft - und somit gute Beziehungen zu unseren Nachbarn - brauchen wir auch in Zukunft; denn nur so gelingen uns in der Schweiz die grossen Reformprojekte der nächsten Jahre.
Es braucht zudem eine politische Kultur in unserem Land, die auf Lösungen ausgerichtet ist.
Der Bundesrat muss sich zusammenraufen und die Bereitschaft zur Konkordanz aufbringen, das Parlament muss immer wieder den Kompromiss suchen. Der Kompromiss ist harte politische Knochenarbeit. Und vor allem ist der Kompromiss in der direkten Demokratie nicht ein Zeichen der Schwäche, sondern Ausdruck von Stärke.
Unsere direkte Demokratie funktioniert nur, wenn wir eine politische Kultur leben, die von einer breiten Mehrheit getragen wird. Für diese politische Kultur gibt es nur einen Leitsatz:
Direkte Demokratie heisst direkte Verantwortung.
Wer verantwortlich handelt, weiss, dass Volksinitiativen nicht dazu missbraucht werden dürfen, um Zeichen zu setzen. Mit Volksinitiativen ändern wir die Bundesverfassung. Und unsere Verfassung - das Grundbuch unserer Demokratie - darf keine Zeichensammlung werden.
Wer verantwortlich handelt, denkt bei politischen Entscheidungen auch an die Minderheiten in unserem Land und an jene, die nicht oder noch nicht mitbestimmen können.
Und wer verantwortlich handelt, denkt daran, dass unser Land keine Insel ist, sondern ein international vernetztes und solidarisches Land.
Geschätzte Mitbürger/-innen, pflegen wir also unsere direkte Demokratie und vermitteln wir den jungen Menschen, dass es in unserer Gesellschaft keinen Platz gibt für Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Vermitteln wir unseren Jugendlichen die menschlichen Werte und die politische Kultur, die nötig sind, damit unser einmaliges politisches System funktioniert.
Ich freue mich, dass Debora heute mein Gast ist. Debora will als Staatsbürgerin unser Land mitgestalten. Sie steht mit tausenden anderen Jugendlichen für die Zukunft der Schweiz.
Schauen wir nicht ängstlich in diese Zukunft. Was unser Land voran bringt, das sind Offenheit, Mut und Zuversicht.
Liebe Mitbürger/-innen, geschätzte Gäste, es ist mir eine Freude und eine Ehre, Ihnen zusammen mit meinem Gast die Grüsse und Glückwünsche der Landesregierung zu überbringen.
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