Auswirkungen des "Brexit" auf das Lugano-Übereinkommen

Die nachfolgende Übersicht fasst die Auswirkungen des "Brexit" auf das Lugano-Übereinkommen (LugÜ) zusammen. Sie stellt dar, wie sich der "Brexit" nach Ansicht des Bundesamtes für Justiz (BJ) auf hängige Zivilverfahren sowie die Anerkennung und Vollstreckbarerklärung von Entscheidungen auswirkt. Gerichte und andere Behörden sind nicht an die juristische Einschätzung des BJ gebunden.

1. Januar 2021 als Stichtag

Gemäss Artikel 126 des Austrittsabkommens zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich gab es bis am 31. Dezember 2020 einen Übergangszeitraum. Gestützt auf Artikel 129 des Austrittsabkommens war das Vereinigte Königreich bis zum Ende dieses Übergangszeitraums weiterhin wie ein durch das LugÜ gebundener Staat zu behandeln. Der "Brexit" hat somit erst seit dem 1. Januar 2021 Auswirkungen auf das LugÜ.

Weitergeltung des LugÜ für Entscheidungen, die vor dem 1. Januar 2021 ergangen sind

Die Anerkennung und Vollstreckbarerklärung von Entscheidungen, die vor dem 1. Januar 2021 ergangen sind, richten sich weiterhin nach dem LugÜ. Dies ergibt sich aus den allgemeinen Grundsätzen des Völker- und des Zivilprozessrechts (droits acquis, Rückwirkungsverbot und Rechtssicherheitsgebot), die z.T. in Art. 1 SchlT ZGB und Art. 196 IPRG eingeflossen sind (vgl. BGE 145 III 109 E. 5.6) und auch Art. 63 LugÜ zugrunde liegen. Die Rechtslage entspricht derjenigen, wie sie im Verhältnis zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich in Bezug auf die weitgehend parallele Brüssel-Ia-Verordnung gilt (Art. 67 des Austrittsabkommens).

Das Bundesgericht scheint diese Sichtweise zu teilen. Ausdrücklich für anwendbar erklärt hat es das LugÜ in einem Fall, in dem das gesamte kantonale Verfahren und die Einreichung der Beschwerde noch vor dem 1. Januar 2021 stattfanden (Urteil 5A_697/2020 vom 22. März 2021 E. 6.1). Gemäss einem Entscheid des Obergerichts Bern (ZK 21 274 vom 4. November 2021) bleibt das LugÜ auch auf die Anerkennung und Vollstreckbarerklärung von Urteilen anwendbar, die vor dem Ende der Übergangsphase im Vereinigten Königreich ergangen sind, selbst wenn der Antrag erst nach dem 1. Januar 2021 gestellt wurde. Siehe in diesem Sinne auch Kantonsgericht Zug, Entscheid vom 2. Februar 2022.

Weitergeltung des LugÜ für Erkenntnisverfahren, die vor dem 1. Januar 2021 rechtshängig wurden

Für Verfahren, die gemäss LugÜ eingeleitet wurden und die am 1. Januar 2021 noch hängig sind, bleiben die angerufenen Gerichte und Behörden gestützt auf das LugÜ zudständig (siehe in diesem Sinne BGer, 4A_133 und 4A_135/2021, E. 4.), auch wenn die Zuständigkeit nach nationalem Recht nicht mehr begründet wäre. Dies ergibt sich aus den vorerwähnten allgemeinen Grundsätzen des Völker- und des Zivilprozessrechts. Für das Vereinigte Königreich ergibt sich diese Regelung aus der Ausführungsgesetzgebung zum Brexit (Sec. 92 der Civil Jurisdiction and Judgments EU Exit Regulations 2019).

Art. 67 Abs. 2 des Austrittabkommens und die britische Ausführungsgesetzgebung gehen gar noch weiter und lassen das bisherige Recht auch für die Anerkennung von nach 2020 ergangenen Entscheidungen gelten, sofern das betreffenden Verfahren vor dem 1. Januar 2021 anhängig gemacht worden war. Für die über keine ausdrückliche Regelung verfügende Schweiz ist diese Frage jedoch umstritten. In der Lehre werden verschiedene Meinungen dazu vertreten.

Nationales Recht für Erkenntnisverfahren, die nach 2020 rechtshängig werden

Für Erkenntnisverfahren, die nach dem 31. Dezember 2020 rechtshängig werden, richtet sich die Zuständigkeit in den Beziehungen zwischen der Schweiz und dem Vereinigten Königsreich wieder nach nationalem Recht.

Auch die Anerkennung und Vollstreckbarerklärung von Entscheidungen, die gestützt auf nach 2020 rechtshängig gewordene Verfahren ergehen, richtet sich nach dem nationalen Recht. Vorbehalten bleiben allfällige Staatsverträge, die in beiden Staaten gelten, wie z.B. das Haager Übereinkommen von 1973 über die Anerkennung von Unterhaltsentscheidungen.

Zukünftiges Verhältnis: allfälliger Neubeitritt zum LugÜ

Das Vereinigte Königreich hat am 8. April 2020 ein Beitrittsgesuch zum LugÜ gestellt. Der Beitritt setzt die Zustimmung aller Vertragsparteien (Dänemark, EU, Island, Norwegen, Schweiz) voraus. Sobald die Zustimmung aller Vertragsparteien vorliegt, wird der Depositar das Vereinigte Königreich zum Beitritt einladen. Das Übereinkommen tritt am ersten Tag des dritten Monats nach der Ratifizierung in Kraft.

Die Schweiz, Island und Norwegen haben dem Beitritt des Vereinigten Königreichs zum LugÜ mit Mitteilungen vom 11. September 2020, 26. Februar 2021 bzw. 30. März 2021 zugestimmt. Die Europäische Union hat dem Depositar mit Note vom 22. Juni 2021 mitgeteilt, dass sie nicht in der Lage sei, ihre Zustimmung zu erteilen ("the European Union is not in a position to give its consent to invite the United Kingdom to accede to the Lugano Convention").

Letzte Änderung 29.08.2023

Zum Seitenanfang

Kontakt

Bundesamt für Justiz
Fachbereich Internationales Privatrecht
Bundesrain 20
CH-3003 Bern
T +41 58 463 88 64
F +41 58 462 78 64
ipr@bj.admin.ch

Kontaktinformationen drucken

https://www.esbk.admin.ch/content/bj/de/home/wirtschaft/privatrecht/lugue-2007/brexit-auswirkungen.html